Noch ist Polen nicht verloren oder das (subjektive) polnische ABC: E wie Europa

„Zurück in Europa!“ – mit solchen Parolen bejubelten Polen den EU-Beitritt Anfang Mai 2004. Der Schengen-Beitritt wurde in den polnischen Medien mit der Wichtigkeit des Mauer-Falls gleichgesetzt. Die Rückkehr zum europäischen Club hat man sehr euphorisch gefeiert. Warum denn eigentlich? Liegt Polen etwa nicht in Europa? Doch, aber Europa bedeutet für die Polen sehr oft ausschließlich Westeuropa.

Europäische-Kommission

Die Aufteilung Europas in Westen und Osten ist seit Jahrhunderten eine kontroverse Angelegenheit. Polen wollte in seiner Geschichte nie mit dem durch Russland dominierten Osten assoziiert werden. Tatsache ist, dass die durch den Historiker Norman Davis immer wieder betonte verhängnisvolle Lage Polens zwischen Russland und Deutschland zur Notwendigkeit der Abwehr sowohl an der östlichen als auch an der westlichen Grenze führte. Dabei wurde aber der Westen immer stark mit christlichen Werten und mit einer von der „besseren“ Kultur geprägten Zivilisation verbunden.

Solche Länder wie Polen, Tschechien und Ungarn waren zwar lange die schützende Mauer des Christentums gegen die Gefahr seitens der Andersgläubigen, sie sind aber im gewissen Sinne als Region namenlos. Sie gehören zwar zusammen mit Deutschland, Österreich und der Schweiz zu dem durch den Politologen Friedrich Naumann 1915 formulierten Konzept von Mitteleuropa, werden aber selbst durch die letzteren Länder als Osteuropa betrachtet (Naumanns Konzept unterstützte übrigens die Germanisierung dieses Teils des Kontinents). Mit der Bezeichnung „Mittel- und Osteuropa“ versuchten Intellektuelle wie Milan Kundera oder Czesław Miłosz eine Art Gegengewicht oder Gegenstellung, ja einen Kompromiss zwischen dem Westen und dem Osten zu schaffen.

Wie kompliziert die Materie von West und Ost, Zentrum und Peripherie ist, zeigt am besten der köstliche Dokumentarfilm des polnischen Regisseurs Stanisław Mucha „Die Mitte“ (2004, 83 Min.). Die Filmcrew begibt sich auf die Suche nach der Mitte Europas und findet sie u.a. in Deutschland, Österreich, Polen, Litauen und der Ukraine. Es sind nicht selten ziemlich skurrile Begegnungen in kleinen Orten, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen und von denen man im politischen Zentrum Europas nie hören wird.

Polen zieht es nach wie vor nach Westen. Durch die politischen Veränderungen nach 1989 und u.a. den EU-Beitritt konnte man wenigstens teilweise westlicher rücken und sich von dem Stigma des verhassten Kommunismus befreien. In vielen Köpfen westlich der Oder ist dies aber lange noch nicht angekommen. Erst vor kurzem habe ich das erneut in einem Smalltalk mit einem deutschen Manager am Münchener Flughafen erlebt: „Fliegt man nach Warschau echt nur eine Stunde?!“.

*Mit den Worten „Noch ist Polen nicht verloren” (Jeszcze Polska nie zginęła) beginnt die polnische Nationalhymne Mazurek Dąbrowskiego.
Im Deutschen wird mit diesem Satz zum Ausdruck gebracht, dass eine fast hoffnungslose Situation doch noch gerettet werden kann (jegliche Ähnlichkeit mit der polnischen Geschichte sowie der Geschichte rund um die polnische Nationalhymne ist hier selbstverständlich kein Zufall).

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